25. Januar 2022

Siebenschläfer by Şakir Gökçebağ – Rene S. Spiegelberger

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Siebenschläfer by Şakir Gökçebağ Rene S. Spiegelberger

‚Die Kunst muß nichts . . . die Kunst darf alles.‘ urteilte ausgerechnet Chemienobelpreisträger Ernst Otto Fischer. Diese einfache, aber im Kern doch philosophische Aussage passt sehr gut zur Gegenwartskunst und insbesondere zum Werk von Şakir Gökçebağ. Für die Menschen ist es zumeist am schwersten die Kunst ihrer Zeitgenossen zu bewerten. Wenn bereits die Malerei und die klassische Skulptur hier häufig umstritten sind und es schwer haben mehrheitlich zu überzeugen, so potenziert sich dies bei Performance- und Aktionskunst oder gar Medien- sowie Digitalart. Um den Diskurs über die Akzeptanz von Kunst aber überhaupt in Gange zu setzen, ist erforderlich, dass sich ein Werk überhaupt erstmal als solches zu erkennen gibt. Einer Arbeit der Minimal-Art liegt naturgemäß nicht dieselbe offensichtliche Präsenz zu Grunde, wie dies für ein Meisterwerk der Renaissance gilt. Künstler und Werk können hier jedoch unterschiedliche Brücken zu ihren Betrachtern schlagen, um sich zu offenbaren. Der Humor war hierbei stets eine der charmantesten. Eine weitere, die der Erschaffer des Sieben Schläfers Şakir Gökçebağ ebenfalls in sein Werk integriert hat ist die Partizipation. In Anknüpfung an die Profession des Zitatgebers Fischer ließe sich als dritte noch ein streng reglementierter naturwissenschaftlicher Versuchsaufbau anfügen. Ein Kommentator auf Instagram applaudierte dem türkischstämmigen Künstler mit ‚This is the most German thing I’ve seen all week. The precision is undoubtedly German.‘ 

Der Sieben Schläfer nach Şakir Gökçebağ ist eine Corona-konforme Großskulptur aus der Gattung der Partizipativ-Kunst. Die Anmutung des vollendeten Werkes weckt Assoziationen zu Constantin Brâncuși oder der Land Art Richard Longs. Doch ist unser Sieben Schläfer horizontal ausgerichtet, raumbezogen auf das Goldbekhaus und von sieben Aufbauteams aus alltäglichen schwarzen Plastikkübeln gestaltet. Dem Minifesto des Künstlers folgend muss Kunst nicht kompliziert sein, sondern darf ihren Gehalt auch aus der Einfachheit entfalten. Im Volksglauben wird zeitgenössische Kunst entweder als intellektuell verkopft oder als spannender Impulsgeber und Sinnstifter gedeutet. Dieser Sieben Schläfer des George-Maciunas-Preisträgers war zum 100. Beuys-Geburtstag das Kunstereignis in Hamburg und mitten im Pandemie-Lockdown auch viral im Netz präsent. 

In der alten Zahlenmythologie gilt die sieben als Glückszahl, weil Sie die Vereinigung der Spiritualität der drei mit der Materialität der vier verbindet. Zudem hat sie eine hohe mythologische Bedeutung. Gott habe die Welt in sieben Tagen erschaffen. Ebenso kennen wir die Geschichte der sieben Weltwunder. Aber auch in Märchen, wie beispielsweise den Sieben Zwergen hinter den Sieben Bergen kommt sie häufig zum Tragen. Hierin findet auch die Legende des Sieben Schläfers ihren Ursprung, dessen Schlaf übertrieben lang durch die Zeit reicht und bis zu einigen hundert Jahren währen kann. 

Kommen wir aber nochmals zum Ausgang zurück, warum Kunst nichts muss. Im Unterschied zu Waren, Gütern oder sonstigen von Menschen gemachten Dingen erfüllt sie einen Selbstzweck. Die Antwort ist also verblüffend einfach: Kunst rechtfertigt sich aus sich selbst heraus und der erste Richter über sie ist ihr Erschaffer. Er allein urteilt, ob Sie Bestand haben kann und gültig ist. Also im Sinne seiner Maßstäbe und Ansprüche als Kunstwerk funktioniert. Als besonderer Clou darf sie dabei alles. Sie genießt die sprichwörtliche Freiheit der Kunst, die ihr sogar einen erweiterten juristischen Spielraum einräumt. Sie kann provozieren, manipulieren, hinterfragen oder auch ästhetisieren, schmeicheln und begeistern. Stets liegt all dies jedoch vor allem im Auge des Betrachters.

Die konzeptionelle Arbeit Şakir Gökçebağs findet in einem hellen freundlichen Atelier am Goldbekkanal in Hamburg statt. Hier werden Ideen skizziert, Prototypen entwickelt, Variationen versucht und Entscheidungen getroffen. Die Entscheidungen beziehen sich zumeist auf Gegenstände des Alltags. Dies können Wäscheklammern, Gürtel, Kehrbesen oder eben im Fall des Sieben Schläfers auch Plastikkübel sein. Was die Materialien des Bildhauers eint, ist ihre Einfachheit und die Vertrautheit durch ihre Omnipräsenz im Alltag einer urbanen und globalisierten Gesellschaft. Es sind günstige industriell gefertigte Massengüter von hoher Funktionalität und geringem eigenständigen ästhetischen Anspruch. Für sie gilt zumeist: Funktionalität vor Design. Zur Kunst werden diese Gegenstände durch die Entkontextualisierung, die nicht selten auf Basis einer mit hoher Präzision vorgenommenen Zerstörung des Gegenstandes im Sinne seines originären Verwendungszwecks fußt. Durch teilen, auffächern, separieren oder zerschneiden verlieren Kleiderbügel, Gummistiefel oder Zollstöcke ihre ursprüngliche Funktion und gehen zumeist im Verbund mit einer Vielzahl baugleicher Teile in einer Plastik auf. Bevor dies geschehen kann, vergeht jedoch sehr häufig viel Zeit. Zuerst wandern die so modifizierten und konzipierten Gegenstände zusammen mit einer präzisen Aufbauskizze in eine Kiste und auf das Lager. Spätestens seit Franz Erhard Walther 1969 im Museum of Modern Art (MoMA) in New York seinen 1. Werksatz (1963-1969) in täglichen Aktivierungen aus der Lager- in die Werkform überführte, müssen diese drei Aggregatzustände von Werken in der Gegenwartskunst mitgedacht werden. 

Der größte Teil von Kunstwerken lagert heute in Magazinen, Zollfreilagern oder Museumskellern. Erst wenn ein Sammler umhängt, eine Leihanfrage eintrifft oder ein Kurator ein bestimmtes Werk in eine Ausstellung integriert, verlassen die Arbeiten Ihre bestenfalls optimal temperierten dunklen Stauräume und zeigen sich Besuchern und Kunstfreunden. Dies galt bis zum 06. Mai 2021 auch für die für den Sieben Schläfer ausgewählten Werkgruppen. Der Unterschied zu einem romantischen Ölgemälde ist, dass hier die Lagerform relevanter Teil der Werkerzählung ist. Deshalb ist auch der nächste Schritt so bedeutungsvoll, in dem die Aufbauteams nicht aus Museumsmitarbeitern, sondern aus offenen, neugierigen, experimentierfreudigen und der Kunst zugewandten Menschen bestehen, die sich auf ein kreatives Experiment einlassen wollen. Sie packen gemeinsam mit dem Künstler die Kisten aus und installieren in 15-20 Minuten unter genauer Beachtung der einer Ikea-Aufbauanleitung nicht unähnlichen Anweisung ihren Teil einer am Ende die gesamte Ausstellungshalle füllenden siebenteiligen Arbeit. 

Die Vielfältigkeit der Möglichkeiten was ein Gegenwartskunst auslösen kann, lassen sich gut am konkreten Projekt des Sieben Schläfers erläutern. Neben dem begleitenden Filmteam und den Aufbauteams warfen Neugierige bereits während der Entstehung des Werkes einen Blick auf das sich entwickelnde Werk. Zahlreiche Besucher ließen sich von der genialen Banalität, der faszinierenden Präzision und dem ästhetischen Gesamtkonzept über die Ausstellungszeit in den frühen Mai-Tagen faszinieren. Vor allem aber folgten, herzten und teilten tausende Menschen dieses eine Woche lang jeden Tag in den sozialen Medien digital wachsende Werk. So entstand ein kollektives Erlebnis auf unterschiedlichsten Ebenen, dass noch geposted und verlinkt wird, während das physische Werk sich bereits wieder zu einem nächsten Winterschlaf in seine Kisten zurückgezogen hat und auf einen kommenden Ausstellungseinsatz in sieben Wochen, sieben Monaten oder vielleicht auch erst in sieben Jahren wartet. 

Abermals ist es Sakir Gökcebag hiermit gelungen die Diskussion anzustoßen, wo eigentlich Kunst beginnt. Einig sind sich viele Betrachter darüber, dass es nicht immer in einem Atelier und schon gar nicht in einem Museum sein muss. Wir sollten also auch die Schirmmanufaktur oder den Baumarkt hierfür in Betracht ziehen. In jedem Fall aber sollten wir unsere Alltags-Wahrnehmung sensibilisieren und uns dafür öffnen die Dinge um uns herum auch einmal anders zu betrachten. Das durchzappen der sieben Kurzfilme offenbart ein weiteres spannendes Phänomen: Keines der Aufbauteams hat seine künstlerische Assistenz ohne ein Lächeln überstanden. Ebenso wird keiner der Akteure, Besucher oder Zuschauer Plastikkübel künftig nur noch als Plastikkübel sehen. Vielmehr ist ihnen der Blick geöffnet, für die in ihm steckende Kraft über seinen Alltagsnutzen hinaus zu wachsen, in der Linie, der Reihung oder dem Ornament aufzugehen, kurz: Kunst zu werden. Ein enthusiastischer Kommentar zur Aktion im Netz fasst dies so zusammen ‚I’m feeding my eyes with your work’.

english

Seven Sleepers by Şakir Gökçebağ 

“Art isn’t obliged to do anything – art can do as it likes,” declared Ernst Otto Fischer, a Nobel laureate for chemistry, of all people. This simple but essentially philosophical statement suits contemporary art very well, especially the work of Şakir Gökçebağ. People usually find the art of their contemporaries the hardest form to evaluate. We all know that painting and classical sculpture are contentious and how difficult it is to reach a consensus. But this complexity is taken to a whole new level by performance and action art, not to mention media and digital art.

In order to get the discourse about the acceptance of art going at all, a work of art needs to be recognizable as such in the first place. A piece of minimal art clearly doesn’t have the same obvious presence as a Renaissance masterpiece. Even so, there are various ways in which artists and works can reach out to viewers in order to reveal themselves. One of the most charming ways has always been humour; another method – one which is integrated by Şakir Gökçebağ into his work, the creator of Seven Sleepers is participation. Alluding to the profession of the above-mentioned Ernst Otto Fischer, a third way that might be mentioned is a strictly regimented setup for a scientific experiment. And a commentator on Instagram praised the Turkish-born artist by writing: “This is the most German thing I’ve seen all week. Its precision is undoubtedly German.”

Seven Sleepers by Şakir Gökçebağ is a large, coronavirus-compliant sculpture in the genre of participatory art. The completed work evokes associations with Constantin Brâncuși as well as Richard Long’s land art. But Seven Sleepers is horizontal, spatially related to the interior of Goldbekhaus arts centre, and was assembled out of everyday black plastic buckets by seven setup teams. According to the artist’s Minifesto, art doesn’t have to be complicated; it can also unfurl its message from simplicity. According to popular notions, contemporary art is either overly intellectual or an exciting source of ideas and meaning. Seven Sleepers by Şakir Gökçebağ, winner of the George Maciunas Award, was the art event in Hamburg held to mark the centenary of Beuys’s birth. Set up and displayed during the COVID-19 lockdown, it also went viral on the internet.

In number mythology, seven is considered a lucky number because it combines the spirituality of three with the materiality of four. It also has high significance in other branches of mythology. For example, God created the world in seven days. Everyone knows about the seven wonders of the world. The number seven frequently crops up in fairy tales – just think of the Seven Dwarfs behind the Seven Mountains. And then there’s the mediaeval legend of the Seven Sleepers, who are said to have been asleep for a few hundred years.

But let’s go back to the beginning, to the question of why art isn’t obliged to do anything. Unlike goods or other man-made items, art is an end in itself. The answer is therefore remarkably simple: art justifies itself by itself, and its first judge is its creator. Only the artist judges whether their work of art will endure and is valid – in other words, whether it functions as a work of art according to their standards and expectations. And as a special bonus, it can do as it likes. It enjoys the proverbial freedom of art, which even grants it greater legal leeway. It’s allowed to provoke, manipulate, question or even aestheticize, flatter and inspire – although all this is principally in the eye of the beholder.

Şakir Gökçebağ’s conceptual work is done in a pleasant, sunlit studio on the Goldbek Canal in Hamburg. This is where he sketches ideas, develops prototypes, attempts variations, and takes decisions. These decisions mostly concern everyday objects. They might be clothes pegs, belts, brooms or, in the case of Seven Sleepers, plastic buckets. What the materials used for his sculptures have in common is their simplicity and their familiarity, since they’re ubiquitous items in urban society all over the world. They’re cheap, mass-produced goods which are almost entirely practical and possess little independent aesthetic appeal; their functionality usually takes precedence over their design. These objects are turned into art by their decontextualization, which is mainly done by carefully destroying them so that they can’t be used for their original purpose anymore. Clothes hangers, rubber boots and folding rules are cut up, spread out and separated, thereby losing their primary function, and normally merged with a multitude of identical items to form a sculpture. Mind you, before this happens, a long time typically passes. First of all, having been modified in this way, the objects are put into boxes and placed in storage, along with a precise setup diagram. Ever since Franz Erhard Walther transferred his First Work Set (1963–69) from storage form to work form at MoMA (the Museum of Modern Art) in New York in 1969 in a series of daily activations, these three aggregate states of works have had to be considered in contemporary art.

Today, the majority of artworks are stored in depositories, bonded warehouses, or museum basements. Only when a collector decides to rearrange their art on display, a loan request arrives, or a curator includes a certain work in an exhibition do the works leave their dark, climate-controlled storage rooms and go on display to visitors and art-lovers. Until 6 May 2021, the groups of works selected for Seven Sleepers were also in storage. The difference from a romantic oil painting is that the form of storage is a relevant part of the work’s narrative. This is also why the next step was so significant, in which instead of museum staff, the setup teams comprised open-minded, inquisitive art-lovers, who were only too keen to participate in a creative experiment. Studying instructions not dissimilar from those supplied by IKEA with its flatpack furniture, together with the artist they unpacked the boxes and spent 15 to 20 minutes installing their section of a seven-part work which would ultimately fill an entire exhibition gallery.

Seven Sleepers is a superb example of the many different possibilities which can be triggered by a work of contemporary art. Apart from the setup teams and the film crew recording the project, curious outsiders couldn’t resist having a look at the work while it was still under construction. Plenty of visitors were fascinated by the ingenious banality, the fascinating precision, and the overall aesthetic concept throughout the exhibition period in early May. Above all, thousands of people digitally followed, embraced and shared this work growing every day for a week on social media. The result was a collective experience on many different levels that’s still being posted, linked and tagged, whereas the physical work has already retreated back into its boxes for its next period of hibernation, waiting to be exhibited again in seven weeks, seven months, or perhaps seven years. 

Yet again, Şakir Gökçebağ has managed to start a discussion about where art actually begins. Many viewers agree that it needn’t always start in a studio, much less a museum. Therefore, other locations that ought to be considered include, say, an umbrella factory or a DIY store. At any rate, we should sensitize our everyday perception and look at the things around us in a different way. 

Zapping through the seven short films reveals another exciting phenomenon – that none of the setup teams managed to complete their share of artistic work without smiling! Similarly, none of the participants, visitors or viewers will ever see plastic buckets as merely plastic buckets ever again. Their eyes have been opened to the power these objects have to grow beyond their everyday use, to merge into lines and rows, into an ornamental arrangement: in short, to become art. The overall impression was summed up beautifully by an enthusiastic comment on the web about Şakir Gökçebağ’s action: “I’m feeding my eyes with your work.”

Rene S. Spiegelberger, Hamburg, June 2021

 

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